Philosophie der Freiheit – Innere und äusseren Befreiung durch seelische Beobachtung

Auf der Grundlage der in der Philosophie der Freiheit von Rudolf Steiner dargelegten «seelischen Beobachtung» lernen wir erkennen, unter welchen Bedingungen unser Denken, Willen und Handeln wirklich frei von jeglicher inneren oder äusseren Fremdbestimmung werden können. Die individuelle, innere Erkenntnis der Möglichkeit der Freiheit im «reinen Denken» und im geläuterten Willen führt zu einer Praxis der Freiheit. Sie ist die wahre Grundlage der äusseren Befreiung. Diese verstehen wir– gemäss den Grundprinzipien der Dreigliederung des sozialen Organismus – als unseren Beitrag zur Schaffung eines freien Geisteslebens, eines brüderlichen Wirtschaftslebens und eines gleichheitsorientierten Rechtslebens.

Die Frage nach der Freiheit des Menschen durchzieht die Kulturepochen seit rund 2500 Jahren. Bis zum Siegeszug der «wissenschaftlichen Revolution» im 19-20. Jahrhundert blieb die Möglichkeit der Freiheit unbestritten. Die Antworten auf die Freiheitsfrage unterschieden sich während dieser langen Zeit vor allem hinsichtlich der Bedingungen der Freiheit. Die Möglichkeit der inneren und äusseren Freiheit wurde nie grundsätzlich bestritten.

Im Zuge der globalen Ausbreitung der «modernen» materialistischen Naturwissenschaften und der «industriellen Revolution» hat sich die Freiheitsfrage radikal geändert. Die Grundidee des Materialismus geht davon aus, dass alles, was in der Welt existiert, schlussendlich durch materielle Kräfte und Prozesse bestimmt ist. Die Freiheit des Menschen wurde damit als unmöglich erklärt: Alle Gedanken, Gefühle oder Willensäusserungen werden als Wirkungen der «komplexen physiologisch-neurologischen Prozesse» betrachtet.

Die materialistische Sichtweise hat das gegenwärtige Wirtschafts-, Rechts und Geistesleben weitgehend vereinnahmt. Wir Menschen werden so immer mehr Teil einer fremdbestimmten Maschine. Da die «Maschine Mensch» nicht so funktioniert, wie es die Mächtigen dieser Erde wünschen, arbeiten sie an der tollkühnen Verbesserung der Mensch-Maschine: Unter dem Stichwort «Transhumanismus» arbeiten sie mithilfe der «künstliche Intelligenz», der «Genschere» und der «digitalen Regierung» an der totalen weltweiten Fremdbestimmung des Menschen.

Die Besonderheit der Philosophie der Freiheit

Vor diesem Hintergrund ist die von Rudolf Steiner im Jahr 1893 veröffentlichte Philosophie der Freiheit von besonderer Aktualität. Im Unterschied zur philosophischen Tradition der letzten 2500 Jahre benutzt Rudolf Steiner die Kernkompetenz der Philosophie, – das Denken –, nicht um neue Hypothesen über «Gott und die Welt» zu erdenken. Durch das, was er «seelische Beobachtung» nannte, zeigt er uns einen Weg, der es uns erlaubt, selbst zu beobachten, wie wir zu Erkenntnissen kommen. Wir können so aus eigener Beobachtung des Erkenntnisprozesses erfahren, warum die aus dem materialistischen Weltbild sich ergebende Verneinung der Möglichkeit des freien Denkens und Willens falsch ist. Das führt zur Erkenntnis der Bedingungen des freien Denkens und Handelns. Diese Erkenntnis der Bedingungen des freien Denkens und Handelns wiederum weisen den Weg zur inneren und äusseren Befreiung.

Wie kommen wir zu Erkenntnissen?

Die erste Ebene der seelischen Beobachtung lehrt uns, dass es jedem Menschen möglich ist, den eigenen Erkenntnisvorgang selbständig und unabhängig innerlich zu beobachten. Wenn wir dies tun, brauchen wir nicht mehr an eine der vielen Theorien zu glauben, über welche die «modernen» Wissenschaften uns erklären, was Erkenntnis genau ist, oder wie das Denken mit dem Fühlen und Wollen zusammenhängt. Dazu müssen wir lediglich innerlich beobachten lernen. Wir können selbst beobachten, dass unsere Erkenntnis sich aus zwei unterschiedlichen Quellen speist. Am Anfang stehen äussere, durch unsere physischen Sinne wahrgenommenen, oder innere Wahrnehmungen (Z.B. Naturerscheinungen oder Gefühle / Gedanken). Sobald diese im Bewusstsein auftreten, fügen wir über unser Denken – meist unbemerkt und schnell – jeder Wahrnehmung einen Begriff oder eine Idee bei.

Erst wenn die Wahrnehmung mit dem von uns aktiv hinzugefügten Begriff übereinstimmt, sagen wir «jetzt weiss ich, was da -draussen oder innen – gerade passiert», quasi der Aha-Effekt. Die Erkenntnis besteht also im Wesentlichen daraus, dass wir zu jeder Wahrnehmung einen Begriff hinzufügen. Solange der Begriff nicht mit der Wahrnehmung übereinstimmt, denken wir weiter, bis die Übereinstimmung von Wahrnehmung und Begriff eintritt. Im Weiteren erfahren wir, die Begriffe sind nicht willkürliche subjektive Artefakte, sondern sie sind Teil eines grossen Netzes von Begriffen und Ideen. Begriffe und Ideen fügen sich aus sich selbst heraus zu einem logisch nachvollziehbaren Ganzen. Dieses Ganze ist Teil der geistigen Welt, und über unser Denken werden wir Teil davon.

Die Entdeckung der Möglichkeit der Freiheit

Die zweite Ebene der seelischen Beobachtung lehrt uns, dass wir Erkenntnisse auch unabhängig von äusseren oder inneren Wahrnehmungen erlangen können. Dies geschieht dann, wenn wir die seelische Beobachtung auf den sinnlichkeitsfreien Denkprozess selbst anwenden. Wir tun dies oft unbewusst, z.B. wenn wir Rechnen, etwas eigenes Schreiben oder über Fragen von Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit nachdenken. Wir bewegen uns dann -im subjektiv erzeugten – aber aus sich selbst herausobjektiv organisierten Denken. Wir benutzen das Denken in diesem Fall, um uns mit der durch sich selbst sprechenden Welt der Begriffe und Ideen zu verbinden.

Die Beobachtung dieses wahrnehmungsfreien – oder «reinen Denkens» wie es Rudolf Steiner nennt – lässt uns erfahren: Im reinen Denken ist die Freiheit des Menschen begründet und lebensnah erfahrbar. Im reinen Denken lösen wir uns von allen äusseren oder inneren Wahrnehmungen, Gewohnheiten, äusseren Autoritäten und Institutionen, sowie von den vielen nicht durchdachten Annahmen. Es ist ein konstanter Prozess der inneren Befreiung, der uns einen Weg zur Belebung der Begriffe und Ideen eröffnet. Die Ideen und Begriffe, die wir den äusseren oder inneren Wahrnehmungen hinzufügen, erscheinen als spezifische, zeitlich fixierte Ausdrucksformen der lebendigen Begriffe und Ideen, die sich in ständiger Bewegung befinden. Steiner schreibt auch von einem Ablähmen der Urbegriffe, wenn wir Z.B. einem spezifischen Tisch den Begriffe Tisch zuordnen, denn der Urbegriff Tisch ist viel umfassender als nur dieses eine Objekt, das wir gerade vor uns haben. Diese lebendigen Urbegriffe äussern sich in allen Phänomenen. Beispiele, an denen dieser Zusammenhang erfahren werden kann, sind die Urpflanze oder das Urtier, wie es von Goethe dargelegt wurde.

Durch das reine Denken versetzen wir uns in die Lage, eine moralische Fantasie zu entwickeln. Sie lehrt uns, unabhängig von allen äusseren moralischen Instanzen, dass die wahren Begriffe und Ideen aus der Intuition hervorgehen. Das reine Denken eröffnet uns den Weg zur moralischen Intuition. Diese frei und selbständig gestaltete moralische Fantasie stellt die Grundlage dar für die äussere Befreiung. Sie schafft die entsprechende moralische Technik, über welche die intuitiv erfassten, moralischen Impulse auch ins praktische Handeln übersetzt werden können. In dem Mass, wie diese innere Befreiung durch das reine Denken gelingt, befreien wir auch unseren Willen von seinen körperlichen Einflüssen. An die Stelle der körperlichen Einflüsse auf den Willen treten die geistigen Tätigkeiten, die sich aus der moralischen Intuition ergeben. Durch die Verbindung mit den Ideen der moralischen Fantasie, werden Wille und die Handlungsmotive ideenerfüllt. Sie lösen sich von äusseren und inneren Einflüssen und führen zum ideenerfüllten freien Willen.

Die Akademie Freiheit Lebenswerk offeriert Seminare, Vorträge und Leserunden, an denen sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen in die Praxis der seelischen Bobachtung einarbeiten können. Sie schaffen sich so einen eigenen Weg in die innere und äussere Befreiung. Die innere und äussere Befreiung ist somit nicht mehr der Abglanz einer fahlen Theorie oder von überholten Glaubenssätzen, sondern entspringt aus der eigenständigen seelischen Beobachtung und Erfahrung der Möglichkeit der Freiheit.

Die Arbeitsgruppe Ganzheitliche Wissenschaft befasst sich mit der Philosophie der Freiheit von Rudolf Steiner sowie anderen ganzheitlichen Herangehensweisen für die Erkenntnis von Wirklichkeit. Wer daran Interesse hat, kann sich jederzeit gerne bei Stephan Rist melden (stephan.rist@unibe.ch).

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