Interview mit Prof. em. Dr. Stephan Rist zur Frage der nachhaltigen Landwirtschaft

Stephan Rist, 1957 geboren, war bis 2021 Professor für Humangeographie an der Uni Bern. Nach dem Studium der Agrarwissenschaften an der ETH Zürich arbeitete er am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL). Danach war er 9 Jahre lang Schweizer Ko-Direktor des Agrarökologie Programms der Universität Cochabamba (AGRUCO) in Bolivien. Danach begann seine Arbeit an der Uni Bern.

In seiner Tätigkeit am Geographischen Institut und am Centre for Development and Environment der Uni Bern, war er in Lehre und Forschung aktiv an der Entwicklung des neuen Fachgebietes der «kritischen Nachhaltigkeitswissenschaft» beteiligt. Über diese kritische Nachhaltigkeitswissenschaft ergibt sich eine direkte – neuartige – Begründung für die Dreigliederung des sozialen Organismus.

Kontakt: Stephan.rist@unibe.ch

Webseiten:

https://www.cde.unibe.ch/about_us/personen/prof_em_dr_rist_stephan/index_eng.html

Lieber Stephan

Vielen Dank, dass wir uns hier treffen dürfen. Du bist auf der Homepage der Fördergesellschaft Demokratie-Schweiz als fachlicher Beirat gelistet. Dazu steht: Der fachliche Beirat nimmt aufgrund seiner fachlichen Expertise Stellung zu verschiedenen Themen und Anliegen der Fördergesellschaft Demokratie Schweiz.

IH: Du bist einige Jahre lang an der Universität Bern in Lehre und Forschung tätig gewesen, bis 2021 als Professor für Humangeographie. Was ist «kritische Nachhaltigkeitswissenschaft»? Und was hat sie mit einer möglichen Begründung für die Dreigliederung des sozialen Organismus zu tun?

SR: Ausgangspunkt der Nachhaltigkeitswissenschaft sind unter anderem die gravierenden Umweltprobleme. Die Nachhaltigkeitswissenschaft betrachtet die heutigen Umweltprobleme als Folge der vorherrschenden, privat- oder staatskapitalistischen Wirtschaftsweisen. Seit den 1980er Jahren haben die transnationalen, wachstums- und gewinnorientierten Konzerne immer mehr Einfluss auf den Staat und damit auf das Rechtsleben gewonnen. Zuerst wurde der Staat durch neoliberale Politik geschwächt. Danach erklärte die Konzernlobby und ihre Parteien, Stiftungen, Medien und NGOs den Staat für unfähig, die Probleme zu lösen. Sie sagten, der Staat könne die gravierenden ökologischen und sozialökonomischen Probleme nicht zeitgerecht beheben. Eine Allianz aus transnationalen Konzernen begann, den staatlichen Stellen Konzepte, Lösungsansätze, Technologien und Finanzierung vorzugeben. Die Wirtschaftskonzerne brachten mit sogenannten «Private Public Partnerships» (PPP), das für sie relevante Rechtsleben praktisch unter ihre Kontrolle.

Das abhängig gewordene Rechtsleben sorgte dann für die «richtigen» Rahmenbedingungen, damit die Privat- oder Staatskonzerne ihre vorwiegend technokratischen Lösungsansätze verwirklichen konnten. Aus diesem Grund sind die Umweltprobleme heute – auch nach 50 Jahren Umweltpolitik – nicht zurück gegangen, sondern haben sich praktisch in allen wesentlichen Bereichen, wie Biodiversität, Entwaldung, Vergiftung von Nahrungsmitteln, Böden und Wasser, verschärft. Wir stehen heute vor der paradoxen Situation: Die von Wirtschaftskonzernen vorgegebene Umweltpolitik trägt dazu bei, die Umweltprobleme zu verschärfen! 

Kritische Nachhaltigkeitsforschung deckt diese problematische Kolonisierung des Rechtslebens durch die Wirtschafts- und Konzerninteressen auf. Wir zeigen auf, wie die Wirtschaftskonzerne die kritische Öffentlichkeit durch ‘public relations’ und viel Geld für Medienarbeit, Forschungsförderung, Lobbying durch private Firmen, Think Tanks und NGOs zu beeinflussen versuchen. In den letzten Jahrzehnten wurde ausserdem klar: Die ökologischen Probleme sind direkt verbunden mit der gravierenden Zunahme von sozialen, ökonomischen und kulturellen Ungleichheiten. Wir wissen heute, dass ökologische und soziale Probleme nicht mehr isoliert angegangen werden können, wirhaben es mit integrierten «sozial-ökologischen» Problemen zu tun. Deshalb müssen sinnvolle Lösungen über das Neudenken des Zusammenspiels von Wirtschafts-, Rechts- und Kulturleben gefunden werden.

Nachhaltigkeitsforschung kritisiert nicht nur die gegenwärtigen Tendenzen. Wir zeigen auch auf, wie sich soziale und politische Bewegungen gegen die Unterwanderung des Rechtslebens, der freien Bildung, Forschung und Kunst durch das Wirtschaftsleben wehren. Wir zeigen auf, dass es viele alternative, integrierte und ganzheitliche Ansätze zur Lösung der sozial-ökologischen Probleme gibt. Sie kommen in der Regel «von unten», sind selbstorganisiert und arbeiten im Rahmen von breiten Allianzen ganz verschiedener Akteure. Die Quintessenz dieser vielfältigen Alternativbewegungen zeigt klar: Damit die drängenden Probleme ganzheitlich angegangen werden können, braucht es mehr als einen «starken Staat». Ein starker Staat, ohne eine starke, selbstorganisierte, auf Kooperation und Solidarität gegründete Wirtschaft und eine freie Bildungs-, Forschungs-, Medien- und Kulturarbeit, wird zum unkontrollierbaren Beherrscher. Er bringt das Wirtschafts- und Kulturleben immer mehr in seine Abhängigkeit; diese Abhängigkeit wird von Teilen der globalen Eliten, als der «Grosse Neustart/Great Reset» oder die vierte industrielle Revolution bezeichnet.

Kritische Nachhaltigkeitsforschung kommt deshalb zu folgendem Schluss: Das klassische Verständnis von einem Staat, der die Grundrechte von Mensch- und Umwelt vor den Auswüchsen der «freien» Wirtschaft schützen sollte, ist eine Fiktion. Das durch die Konzernwirtschaft kolonisierte Rechtsleben kann seine regulierende Funktion nicht mehr wahrnehmen. Das Rechtsleben wird vielmehr zur «Brechstange», mit der die mächtigen Konzerne der Bevölkerung ihre eigenen Agenden aufzwingen.

Den Ausweg aus dieser Falle weist in der Nachhaltigkeitsforschung die feministische Philosophin Nancy Fraser. Sie zeigte auf, dass die staatlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen nur dann sinnvoll und ganzheitlich geregelt werden können, wenn sie der Emanzipation der Menschen von Fremdbestimmung dienen. Das heisst, jede Massnahme oder Entwicklung im Rechts- oder Wirtschaftsleben ist nur dann sinnvoll, wenn sie die Menschen von Fremdherrschaft, Unterdrückung und Manipulation befreit. Damit wird dem kulturellen Lebensbereich – in der Dreigliederung auch Geistesleben genannt – die ihm gebührende Rolle zurückgegeben. Aus der Sicht der kritischen Nachhaltigkeitsforschung übernimmt das Kultur- oder Geistesleben die grundlegende Rolle der Verwirklichung der Freiheit der individuellen Menschen.

Mit der Einführung von Freiheit oder Emanzipation als Kern eines Kultur- oder Geisteslebens fügt die Nachhaltigkeitsforschung bei der Analyse der Probleme und der Suche nach Lösungen einen dritten Pol hinzu. Die Freiheit wird so nicht in erster Linie über das Rechtsleben, sondern über das Kultur- oder Geistesleben in die gesellschaftliche Entwicklung eingebracht. Damit kommt die kritische Nachhaltigkeitswissenschaft der Dreigliederung schon recht nahe. Es ist klar, dass die Freiheit nicht durch die Wirtschaft zu erreichen ist, denn «das freie Unternehmertum» ist ja eine der Hauptursachen der sozialökonomischen und ökologischen Probleme.

Das schafft Raum für ein Neudenken von Grundwerten des Wirtschaftslebens. Ein gemeinsames Merkmal fast aller Alternativen aus der kritischen Nachhaltigkeitsforschung betrifft die Überwindung des hierarchischen, konkurrenzgetriebenen, fremdbestimmten, wachstums- und gewinnorientierten Wirtschaftslebens. Deshalb sind solidarökonomische, genossenschaftliche und gemeinwohlorientierte Wirtschaftsformen in diesem Kontext von grosser Bedeutung. In deren Zentrum steht die Selbstorganisation, Selbstverwaltung und freie Kooperation. Die Überwindung des Warencharakters der menschlichen Arbeit und des Bodens sind zusätzliche Gemeinsamkeiten der kritischen Nachhaltigkeit und der Dreigliederung.

Durch die Einführung eines freien Kultur- oder Geisteslebens und der Stärkung einer kooperativen, selbstverwalteten Wirtschaft kann das Rechtsleben von seiner gegenwärtigen Rolle des Hegemonen erlöst werden. Ein kooperatives Wirtschaftsleben und ein freies Kultur- und Geistesleben schaffen vielfältige Möglichkeiten für die «Entschlackung» des gegenwärtigen, von Herrschaftsinteressen kolonisierten Rechtslebens. Es kann sich so darauf beschränken, diejenigen Belange zu regeln, bei denen es um Grundwerte geht, die für alle Menschen gleich sind. Was das genau betrifft, wird im demokratischen Prozess ermittelt und danach vom Rechtsleben verwaltet. Das Rechtsleben kümmert sich deshalb nur noch um die Fragen, bei denen die Gleichheit das Menschen im Vordergrund steht. Das kooperative und selbstverwaltete Wirtschaftsleben setzt die Deckung des Bedarfs aller Menschen ins Zentrum seiner Aktivitäten. Das Kultur- oder Geistesleben entwickelt sich rund um die freie Entfaltung der individuellen Fähigkeiten und Neigungen der Menschen. Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung wird so nicht über den erbitterten Konkurrenzkampf zwischen Rechts-, Wirtschafts- und Kulturleben verunstaltet, sondern über ein möglichst dynamisches Zusammenspiel der drei Lebensbereiche gestaltet. 

Wir können das am Beispiel der vielen Initiativen zur Schweizer Landwirtschaft sehen, über die wir in den letzten Jahren immer wieder abstimmten. Diese zeigen, dass der Staat nur ungenügend dazu in der Lage ist, Nachhaltigkeit zu garantieren. Wenn man die vier Kriterien anschaut, die als Hauptziele der Schweizer Landwirtschaftspolitik definiert wurden, dann sieht man, dass keines ihrer vier Hauptziele (dezentrale Besiedelung, Ernährungssicherheit, ökologische Nachhaltigkeit und Erhaltung der Familienbetriebe) gegenwärtig erfüllt wird. Trotzdem geht man geht davon aus, dass diese Probleme nur über noch mehr staatliche Interventionen gelöst werden können. In der Folge werden die Bauern immer grösseren Beschränkungen und immer rigoroseren Vorschriften unterworfen. Aus der dadurch zunehmenden unternehmerischen Unfreiheit der Bauern resultiert jedoch keine nachhaltige Verbesserung der Umweltsituation.

Das gilt insbesondere für Notstandsmassnahmen im Zusammenhang mit dem Klima, mit Dürren, Überschwemmungen, mit Infektionskrankheiten, etc. Diese führen primär zu Einschränkungen der Wahlfreiheit, aber nicht zu nachhaltigen Lösungen. Das beanstandet die kritische Nachhaltigkeitswissenschaft, welche die Lösung nicht in einer Einschränkung unternehmerischer Freiheit sieht, sondern in der Selbstverwaltung der wirtschaftlichen Wertschöpfung. An die Stelle des «freien Unternehmertums» treten Assoziationen zwischen Konsumenten- und Produzentenverbänden, welche über die Regulierung der Produktion und die Gestaltung des richtigen Preises zusammen nachhaltige Lösungen suchen. Dies könnte von einem souveränen Rechtsstaat begleitet werden, ohne dass dieser direkt in die wirtschaftliche Selbstorganisation und Preisgestaltung durch die Assoziationen eingreift.

IH: Eine sehr auffällige Signatur unserer Zeit scheint mir die immer grössere Unfähigkeit vieler Menschen in Zusammenhängen zu denken. Mit der Dreigliederung ist uns eine Idee gegeben, die im Grunde genommen alles zusammensehen will. Dennoch erscheint es schwierig die Dreigliederung unmittelbar einzuführen. Woran liegt das?

SR: Das herrschende materialistische Welt- und Menschenbild verhindert immer wieder nachhaltige, ganzheitlichere Lösungen, die auf eine holistische Weltwahrnehmung aufbauen. Es muss ein Bewusstseinsprozess entstehen, der einhergeht mit der Erarbeitung praktischer Lösungen. Für anstehende Probleme müssen, aus der praktischen Auseinandersetzung, konkrete Ansätze entwickelt werden. Das muss in Assoziationen geschehen und kann – dort wo sinnvoll und möglich – durch das freie Geistesleben ergänzt werden. Das ist viel wichtiger, als immer wieder utopische Ziele oder (staatliche) Programme zu definieren, die dann an der Praxis von Wirtschafts- und Geistesleben scheitern.  Anstatt die schon jetzt überbordende Vorherrschaft des Rechtslebens weiter auszubauen, ist der massive Ausbau der assoziativen Wirtschaft und des freien Geisteslebens der einzige lebensbejahende Ausweg.

IH: Welche Möglichkeiten würde die Dreigliederung des Sozialen Organismus bieten, von der agroindustriellen, staatlich kontrollierten Landwirtschaft weg zu kommen?

SR: Die Lösung im Sinne der Dreigliederung ist sehr interessant, weil sie ein Grundübel in Angriff nimmt. Und zwar die Besitzverhältnisse in Bezug auf Grund und Boden. Rudolf Steiner schlägt vor, Grund und Boden unverkäuflich zu machen und ihn in Gemeingut zu verwandeln (weder Staats- noch Privateigentum). Durch diese Massnahme könnten alle Kosten in der Landwirtschaft stark reduziert werden, da Spekulationsgewinne der Bodenbesitzer nicht länger über landwirtschaftliche Produkte mitfinanziert werden müssten. Gegenwärtig führt die extrem hohe Schuldenlast auf Böden, Immobilien und Krediten bei allen Produkten zu immer höheren Preisen. Die Schweizer Landwirtschaft sitzt auf einem stetig wachsenden Schuldenberg von momentan 35 Milliarden Schweizer Franken. Jedes Jahr bezahlen Schweizer Landwirte die unheimlich grosse Summe von 520 Millionen Franken an Pachtzinsen. Das ist viel Geld, das einerseits die Landwirtschaftsprodukte verteuert und anderseits an Bodenbesitzer fliesst, die in Wahrheit überhaupt keine Funktion mehr in der Nahrungsmittelproduktion haben.

Man müsste durch demokratische Prozesse zu einem Entscheid im Rechtsleben und zu Gesetzen kommen, die Handel und Verkauf von Landwirtschaftsland verunmöglichen. Die Konsequenz daraus wäre, dass die Bauernfamilien statt Besitz- nur noch gemeinschaftlich verwaltete Nutzungsrechte am Boden geltend machen könnten. Dadurch würde sichergestellt, dass Betriebe, die aufgeben werden, nicht an den Meistbietenden, sondern an den jeweils Fähigsten weitergegeben werden. Ohne diese radikale Abkehr von privaten oder staatlichen Besitzrechten scheint mir die Überwindung des staatliche-agroindustriellen Komplexes nicht machbar. Das zeigt sich auch an der Geschichte des Biolandbaus. Bis zu dem Zeitpunkt, in dem er die Marktnischen ausfüllen konnte, schien er ohne den radikalen Umbau von Besitz- zu Nutzungsrechten auszukommen. Die über die Marktnischen hinausgehende Umwandlung der agroindustriellen Landwirtschaft ist jedoch heute bei uns – und in vielen anderen Ländern-  ins Stocken geraten. Ein Hauptgrund sind auch im Biolandbau die steigenden Kosten, unter anderem infolge der immer stärkeren Verschuldung. Damit der Biolandbau sich weiter ausbreiten kann, sind auch hier die Möglichkeiten zur Überführung des Privat- oder Staatseigentums in gemeinschaftlich verwaltete Nutzungsrechte von grosser Bedeutung.

Die Schulden der Bauern wären so in Bezug auf den Boden einfach aufzuheben. Der Staat würde dadurch in vielen Fällen von seinen Schulden als Gläubiger enteignet, müsste jedoch in Zukunft auch viel weniger oder gar keine Direktzahlungen mehr leisten.

IH: Gäbe es denn Alternativen zu einer politischen Subventionierung der Landwirtschaft in der Schweiz? Was wäre zur These, dass die Dreigliederung auch in diesem Bereich einen Lösungsansatz bietet, konkret zu sagen?

SR: Wenn die Bodenfrage im Sinn von Nutzungsrechten gelöst ist, dann können die Bauern durch das System der Assoziationen die «richtigen» Preise zwischen Konsumenten, Händlern und Produzenten selbst ermitteln. Durch den direkten Einbezug der Konsumenten in die Preisgestaltung würde die vorsätzliche Verfälschung der Preise durch das Lobbying der Agarindustrie und der Lebensmittelverbände neutralisiert. Über die Assoziationen wird es möglich, das teuer und übergriffig gewordene System der staatlichen Direktzahlungen zu überwinden. Anstatt dass der Staat jedes Jahr 4-5 Milliarden Steuergelder bei den Konsumenten und Steuerzahlern eintreibt und mit einem hohen Verwaltungsaufwand in die Landwirtschaft umleitet, würde das Geld bei den Steuerzahlern und Konsumenten belassen. Damit hätten sie insgesamt genauso viel- oder gar mehr – Geld für den Konsum von Nahrungsmitteln zur Verfügung. Sie könnten in der Aushandlung von «fairen Preisen» mit den Bauern also auf einen grösseren finanziellen Spielraum zählen, als dies heute möglich ist. Dadurch wären die Produzenten nicht länger in dem Masse wie jetzt den marktbeherrschenden Grosshändlern ausgesetzt und erhielten auf ihre Produkte direkt den Preis, den sie zur Produktion benötigten.

IH: Was macht das Bodenrecht zur Machtfrage? Und; wo wären Lösungsansätze aus der Dreigliederung heraus gegeben? Hat die Confoedera Bodentreuhand Stiftung zur Finanzierung des freien Kultur- und Geisteslebens auf der Grundlage von Bodennutzungs-Beiträgen in Zürich eine sinnvolle Antwort auf diese Frage aus deiner Sicht gegeben?

SR: Wenn der Boden unverkäuflich gemacht würde, dann wäre er keine Ware mehr. Er könnte dann nicht länger als finanziell-rechtliches Machtmittel missbraucht werden. Er kann nicht mehr belehnt werden und verliert seine Funktion als Sicherheit bei der Kapitalspekulation. Die Macht der Bodenspekulanten kann damit nicht mehr in die Landwirtschaft eingreifen. Confoedera ist eine sinnvolle Initiative, weil sie, von der freien Entscheidung des Immobilienbesitzers ausgehend, dazu beiträgt, Boden praktisch unverkäuflich zu machen und den Ertrag aus den treuhänderisch verwalteten Immobilien dem Freien Geistesleben zur Verfügung zu stellen. Meine einzige Kritik wäre, dass man nicht von «Ertrag» oder «Bodenrenten», sondern von Schenkgeld sprechen sollte. Eines der Hauptziele des assoziativen Wirtschaftslebens ist ja die Erzeugung von Schenkgeldern, die für das freie Kultur- und Geistesleben notwendig sind. In diesem Sinn ist Confedera ein guter erster Schritt in die richtige Richtung, wenn wir von den jetzt gegeben Umständen ausgehen.

Wenn wir von der idealtypischen Vorstellung der Dreigliederung ausgehen, müsste man noch weiter gehen. Nach der Dreigliederung müsste der Grund und Boden auf dem Immobilen stehen, von ihrem Warencharakter befreit werden. Das kann nur über das Rechtsleben geschehen. Nachdem dies vollzogen ist, würden die Mieten deutlich sinken. Dadurch sinkt der Bedarf, den die assoziative Wirtschaft für das Wohnen seiner Mitarbeiter aufbringen muss. Das hätte zur Folge, dass die assoziativen Unternehmungen mehr finanziellen Spielraum für Schenkungsgelder an das freie Geistesleben bekommen. Das wäre dann die ideale Konfiguration für ein optimales Wechselspiel, zwischen assoziativem Wirtschaftsleben und dem freien Geistesleben.

IH: In deinem Artikel «Boden als Investitionsobjekt» beschreibst du mit deinem Mitautor, dass innerhalb der Schweiz nur 14% des gesamten, durch unseren Lebensstandard verursachten Landbedarf abgedeckt werden (globaler Land-Fussabdruck). Was heisst das konkret für die Produktivität unserer Landwirtschaft?

SR: Der Netto-Selbstversorgungsgrad mit Nahrungsmitteln beträgt gegenwärtig rund 51%. Wenn wir sowohl die Futtermittelimporte, Treibstoffe, Saatgut, als auch die Zuführung von Dünger, Pestiziden und Maschinen aus dem Ausland abziehen, dann produzieren wir in Wahrheit nur noch 20% unser Nahrungsmittel wirklich unabhängig. Da so viele Inputs aus dem Ausland kommen, bedeutet dies umgekehrt, dass die grössten Umweltschäden nicht bei uns in der Schweiz, sondern im Ausland anfallen. Deshalb macht es, vor allem in Krisenzeiten wie jetzt, wenig Sinn nur die Produktion zu erhöhen. Denn damit vergrössern wir die Auslandabhängigkeit noch und treiben die Umweltschäden im Ausland noch weiter in die Höhe. Wir müssen vom reinen Ertragsdenken wegkommen. Statt die Landwirtschaft an der Anzahl Tonnen Nahrungsmitteln zu messen, müssen wir uns fragen, wieviel Material und Energie aus dem Ausland verwenden wir, um eine Kilokalorie Nahrungsmittel auf unseren Böden herzustellen? Es geht also um die Gesamteffizienz der Nahrungsmittelproduktion in der Schweiz. Zweitens müssen wir fragen, welche Art der Landwirtschaft hat die höchste Gesamteffizienz in der Schweiz? Die Antwort auf diese Frage macht einmal mehr klar, dass die gegenwärtig stark agroindustriell orientierte Landwirtschaft durch Agrarökologie und Biolandbau ersetzt werden muss. Dieses sind die Produktionsmethoden, welche mit minimalem Verbrauch von Materialien und Energie am meisten wirklich heimische Nahrungsmittel herstellen können. Damit würde man auch die damit verbundenen Schäden im Ausland vermindern. 

IH: Sollte man denn aus Sicht der Dreigliederung die Produktivität unserer Landwirtschaft zur Ernährung der Bevölkerung maximieren?

SR: Im Sinne der Dreigliederung machen wirtschaftliche Grenzen nicht an den Landesgrenzen halt. Eine nachhaltige Lösung wäre die Umstellung der Landwirtschaft auf Biosuisse Standard, oder noch besser Demeter. Das wäre die beste Garantie für die Ausweitung der Produktion, ohne Auslagerung von Umweltschäden in den Rest der Welt. Das FIBL (Forschungsinstitut für Biologischen Landbau) hat schon vor Jahren durchgerechnet, dass sich die Weltbevölkerung mit Biologischem Landbau ernähren liesse. Diese Umstellung soll aber nicht von «oben her» durch das Rechtsleben diktiert und technokratisch umgesetzt werden. Aus Sicht der Dreigliederung muss dies über die Ausweitung eines assoziativen Wirtschaftslebens mit der Unterstützung durch das freie Geistesleben geschehen.

IH: Immer wieder fällt mir auf, dass wir in zahlreichen Dilemmata gefangen sind. Wenn der Staat nicht für Umverteilung sorgen würde, würden wahrscheinlich grosse Teile der Bevölkerung und die verschiedensten Wirtschaftszweige bankrottgehen. Gleichzeitig führen die Umverteilungseffekte häufig nicht zu nachhaltigen Lösungen.

SR: Wenn man sich ansieht, wo die Schweiz steht in Bezug auf die Erreichung ihrer Ziele in der Landwirtschaftspolitik (siehe Verfassungsartikel zur Landwirtschaft), dann sieht man, dass die Ziele verfehlt werden. Trotz 4 Milliarden an Steuergeldern, die in die Landwirtschaft fliessen, ist kein einziges Ziel bisher erreicht worden. Weder im Umweltschutz noch in der landwirtschaftlichen Produktivität. Stattdessen dient dieses Geld einer gigantischen Umverteilungsmaschinerie an diverse Lobbyverbände und Wirtschaftskreise, die alle in irgendeiner Weise von diesem System profitieren.

IH:  Weshalb beenden wir nicht einfach sämtliche Formen der Umverteilung und liberalisieren die Wirtschaft vollständig? Das würde der von der Dreigliederung geforderten Trennung von Wirtschaft und Staat doch entsprechen.

SR: Einfach liberalisieren ist ja dasjenige, was der Neoliberalismus immer wieder vorschlägt. Ohne gleichzeitige Stärkung eines assoziativen Wirtschaftslebens und eines freien Geisteslebens führen solche marktfundamentalistischen Vorschläge zum Gegenteil von dem was sie versprechen. Anstatt mehr Gerechtigkeit geben neoliberale Politiken den mächtigen Akteuren noch mehr Macht. Bei uns würde das unweigerlich dazu führen, dass die Allianz von Grossverteilern und Agarindustrie die Landwirtschaftsproduktion vollständig kontrollieren könnten. Das würde dazu führen, dass sich die Wirtschaft als stärkster Akteur der agroindustriellen Landwirtschaft vollständig bemächtigt. Wir würden so mittelfristig zu amerikanischen Zuständen gelangen. Das heisst, es entstünden investorengelenkte Grossfarmen, die einzig dasjenige produzieren würden, was maximalen Gewinn abwirft. Das würde zu einer Zerstörung von etwa 80% der jetzigen bäuerlichen Landwirtschaft in der Schweiz führen. Man könnte dann den Liter Milch z.B. für 20 Rappen kaufen. Dabei würde man aber die gesamte bisherige Kulturlandschaft, sowie 80% der heutigen Bauernbetriebe verlieren. Das heisst wir hätten weder Ernährungssicherheit noch Ernährungssouveränität.

IH: Woran lässt sich in der Schweiz mit der Dreigliederung aus deiner Erfahrung heraus am ehesten anschliessen?

SR: In der Schweiz gibt es ein nach wie vor diverses, partiell freies Geistesleben. Dies auszubauen und freizuhalten sowohl von wirtschaftlichen wie auch von staatlichen Einflüssen ist einer der wichtigsten Faktoren.

Die immer zahlreicheren Initiativen zur freiwilligen Überführung des Besitzes an Grund und Boden in gemeinsam verwaltete Nutzungsrechte sind ein weiterer wichtiger Anknüpfungspunkt. In der Schweiz blicken diese Initiativen schon auf mehr als eine Generation zurück. Daraus haben sich viele wertvolle Erfahrungen ergeben. Diese Erfahrungen, vor allem auch dort, wo sie Schnittstellen der Landwirtschaft mit der assoziativen Geldwirtschaft oder mit dem freien Geistesleben (wie Steinerschulen) betreffen, sind wichtige Anknüpfungspunkte, die aufgearbeitet und bekannt gemacht werden sollten.

Ohne ein freies Geistesleben werden nachhaltige Veränderungen nur schwer zu erreichen sein. Mit unserer Initiative der Akademie Freiheit Lebenswerk wollen wir dazu einen Beitrag leisten. Siehe https://freiheit-lebenswerk.ch/

Lieber Stephan, ich danke dir für das Gespräch!

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