«Es sind vor allem Beweggründe des demokratischen Missbehagens, die im Vordergrund stehen: Weil eine Kluft zwischen Politik und Bürgerschaft beklagt wird, stellt sich auch die Frage nach der Führung im Staat. In der Öffentlichkeit nimmt die Gewissheit überhand, dass eine Elite von wenigen Meinungsführern und Interessenverbänden immer wieder die halbdirekte Demokratie überspielt. Das böse Wort Korruption ist zwar noch nicht gefallen. Doch muss man heute der tonangebenden politischen Schweiz den Vorwurf machen, dass sie verfilzt ist und die Gewaltentrennung missachtet.»
Man könnte meinen, dass diese Zeilen erst kürzlich geschrieben wurden. Schliesslich sind es Ereignisse jüngeren Datums, die den Schluss nahelegen, dass die Schweiz nicht nur verfilzt, sondern im eigentlichen Sinne von Wirtschafts- und Verbands- und Lobbyinteressen unterwandert und geradezu strukturell ausgehöhlt ist. Es stellt sich jedoch heraus, dass obige Zeilen gerade 40 Jahre alt geworden sind. Sie entstammen dem Vorwort von «Wer regiert die Schweiz» (Hans Tschäni, 1983). Zwei Dinge springen bei der Lektüre ins Auge: Erstens hat der Autor, dessen Werke allgemeine Anerkennung fanden, und auch für den Staatskundeunterricht verwendet wurden, präzise erfasst, dass die Schweizerische Demokratie strukturell antidemokratischen Kräften preisgegeben ist. Und zweitens bezeichnet er die Schweiz richtig als halbdirekte Demokratie. Beides nehmen viele Bürgerrechtsbewegungen heutzutage staunend zur Kenntnis, als handelte es sich um eine Entwicklung der letzten paar Jahre. In Wirklichkeit ist diese jedoch viel älter als 40 Jahre.
Zu den basalen Erkenntnissen, denen wir uns in Zukunft nicht entziehen sollten, gehört auch die Tatsache, dass wir keine Eidgenossenschaft und keine direkte Demokratie sind. Obwohl es lapidar ist, sollten wir uns klarmachen, dass die Eidgenossenschaft mit der Entstehung des Bundesstaats 1848 untergegangen ist. Tatsächlich spricht man bei der Schweiz vom republikanisch verfassten Bundesstaat. Die Eidgenossenschaft war dagegen ein Staatenbund unabhängiger souveräner Einzelstaaten, genannt Kantone.
Das zweite was anerkannt werden sollte, ist, dass wir in Wirklichkeit in einer halbdirekten Demokratie leben. Halbdirekt, weil wir zur Hauptsache repräsentativ regiert werden und nur zu einem minimalen Teil Einfluss auf das Staatsgeschehen in Form von direkter Demokratie nehmen können. Es handelt sich also um eine repräsentative Demokratie, genauso wie in Deutschland oder Österreich, nur eben mit ein paar direktdemokratischen Elementen.
Direkte Demokratien finden wir ansatzweise nur in Landsgemeinden, wo in Kantonen wie Appenzell oder Glarus noch bestimmte Teile der Bevölkerung vor dem Kantonsparlament zusammenkommen und dann persönlich abstimmen. An der Glarner Landsgemeinde dürfen die Stimmberechtigten einmal im Jahr zum Beispiel «raten, mindern, mehren und wählen». Das heisst, sie können über jedes einzelne Sachgeschäft das Wort verlangen, eine Änderung beantragen, eine Vorlage verschieben oder zurückweisen. Zudem werden die kantonalen Richter sowie der Landammann an der Landsgemeinde gewählt (bis 1971 auch die Kantonsregierung). Aus diversen Gründen ermöglicht auch diese Form der direkten Demokratie keine vollständige Mitbestimmung der Bevölkerung über alle Fragen des Rechts und der Gesetzgebung, noch weniger über alle wirtschaftlichen Fragen oder diejenigen des Geisteslebens.
Das sollte zunächst im Auge behalten wer glaubt, etwa mit der Einführung der sogenannten Direkten Demokratie oder einzelnen Plebisziten in Deutschland weltbewegendes erreichen zu können. Dank dem Modell der halbdirekten Demokratie der Schweiz wissen wir, dass dies keine fundamentale Infragestellung der Machtverhältnisse bedeutet. Und wir wissen es genau so lange wie schon versucht wurde, durch die Einführung der halbdirekten Demokratie die Mitbestimmung grösserer Teile der Bevölkerung zu erreichen. Regieren, oder herrschen, kann in jedem Land der Welt, so demokratisch es immer sein möge, nur eine kleine Minderheit. Eine sogenannte Elite, die dazu ausgewählt wurde (urspr. von lateinisch eligere «auslesen»). Sie muss diejenigen Interessen vertreten, die den eigentlichen Kräfteverhältnissen und Machtinteressen am besten entsprechen. Wichtig; auch die sogenannten Eliten (hier Politiker) werden gewählt. Ihre Aufgabe als Politiker ist es die Interessen der Lobbygruppen, die sie vertreten durchzusetzen und dies den Stimmbürgern als in ihrem Interesse liegend darzustellen. Es ist deshalb merkwürdig, wenn beklagt wird, dass Politiker sich nicht um die Bevölkerung kümmerten, oder einer eigenen Agenda folgten. Seit jeher gibt es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen den Interessen bestimmter Lobbygruppen und denjenigen der Bevölkerung. Im Gegenteil, Politik wird als die Kunst verstanden, denjenigen Interessenverbänden zu dienen, von denen man behauptet, dass sich auch im Interesse der Bevölkerung handeln würden.
Das Niveau der Diskussion bei vielen “politisch engagierten” zeigt jedoch, dass diese Tatsachen auch heute noch nicht verstanden werden. Immer noch wird allerorts die Abkoppelung der Politikeliten vom eigentlichen Volkswillen beklagt, wird angeprangert, dass diese korrupt seien, oder fremden Interessen folgen würden. Da stellt sich natürlich die Frage, ob das wohl je anders war. Und ob überhaupt vorstellbar ist, dass es anders sein könnte?
Die Illusion der Demokratie und die Wirklichkeit der Dreigliederung
Die Illusion der modernen, repräsentativen Demokratie beruht auf der Vorstellung, der Stimmbürger könne durch Wahl, durch Abstimmungen, und die öffentliche Meinung die Politiker so bestimmen, dass diese ihm dienstbar würden. Oder umgekehrt; der Repräsentant werde durch diese Faktoren geneigt, dem Bürger zu dienen. Man geht davon aus, dass rechtlich-demokratische Mechanismen, Medienkontrolle und Gewaltentrennung den gewählten Politiker korrigieren oder ersetzen, wenn er versagt. Diese Überzeugung ist grundlegend falsch. Trotzdem hält sie sich hartnäckig. Man führt eine Debatte nach der anderen darüber, was der Stimmbürger tun könnte, um seine Repräsentanten dazu zu bringen, ihn wirklich zu vertreten. Um die Unzulänglichkeit des demokratischen Ideals einzusehen, empfehle ich wärmstens Johannes Mosmanns Aufsatz «Das Geheimnis der Macht», als profundeste Lektüre zum Thema, die sich in überschaubarem Rahmen hält. In der Kurzfassung kann man sagen: Der Stimmbürger kann den Repräsentanten nicht kontrollieren und der Repräsentant kann den Stimmbürger nicht hinlänglich vertreten. Dies ergibt sich aus dem demokratischen Prozess selbst. Derjenige welcher in einem Parlament bestimmte Aufgaben und Geschäfte verantwortet, kann diese weder dem einzelnen Stimmbürger zuverlässig und umfassend vermitteln, noch kann der Stimmbürger sich wirklich eine Übersicht darüber verschaffen, was der Politiker tut.
Die Demokratie befindet sich damit in genau dem Dilemma, in dem sie immer war und immer sein wird. Sie kann – aus systemimmanenten Gründen –, in Aspekten des Geistes- und des Wirtschaftslebens nicht zuverlässig zur Anwendung kommen. Und zwar nicht deshalb, weil Politiker böswilliger und egozentrischer sind als andere Menschen, sondern deshalb, weil es nicht möglich ist deren Entscheidungsgrundlagen zuverlässig und umfassend zu vermitteln. Es gibt viele ganz einfache Menschen, die das genau verstanden haben und diesen Umstand schon immer mit dem Satz kommentieren; «Die machen ja eh was sie wollen». Und es gibt sehr viele, sich für intelligent haltende Menschen, die das nie verstehen, weil sie auf Biegen und Brechen am demokratischen Ideal festhalten wollen und sich keinen Staat vorstellen wollen, der ein Mitspracherecht in geistigen und wirtschaftlichen Fragen ausschliesst.
«Die Eliten hantieren nicht mit Theorien, sondern arbeiten mit Tatsachen. Ihre Herrschaft beruht auf einer sachlich richtigen Analyse derjenigen Fakten, die sich durch das Streben nach Demokratie erst konstituieren. Keine Form von Demokratie kann ihnen gefährlich werden – […] Wenn das Volk dieser Tatsache etwas entgegensetzen wollte, dann müsste es zunächst die Unzulänglichkeit des demokratischen Ideals voll anerkennen. Denn obschon es gegen Tatsachen keine Gegenargumente gibt, so können doch praktische Konsequenzen aus ihnen gezogen werden – sobald man sie anerkennt.»[1]
Johannes Mosmann führt in dem zitierten Artikel detailliert aus, weshalb das Verlangen von demokratischer Mitbestimmung in allen Belangen des Geistes- und des Wirtschaftslebens zu einem Vakuum führen muss. Und dass dieses Vakuum stets von bestimmten Eliten ausgefüllt wird, die dazu eingesetzt werden, diejenigen wirtschaftlichen und geistigen Interessen zu vertreten, für die sie eben bezahlt werden.
Die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass ein Staat strukturell korrumpiert wird, so, dass er Partikularinteressen geopfert wird, ist, ihm seinen Einfluss auf diese Gebiete zu entziehen. Denn indem dem Staat erlaubt wird Teile der Wirtschaft zu steuern, erkauft man sich diese Einwirkung durch eine Korrumpierung des Staates und der Wirtschaft. Nur indem der Staat von den Bereichen des Wirtschaftslebens und des Geisteslebens abgegliedert wird, entsteht die Möglichkeit, dass diese sich ohne Lobbyeinflüsse entfalten können. So verführerisch der Gedanke auch sein mag die Wirtschaft durch den Staat sozial und das Geistesleben frei zu machen, er erweist sich als Irrtum. 175 Jahre Bundesstaat haben gezeigt, dass auch in der Schweiz stets Politiker gewählt werden, die im Interesse bestimmter Monopolisten agieren.
Solange der Einflussbereich des Staates nicht im Sinne der Dreigliederung auf seinen eigentlichen Bereich, das Rechtsleben reduziert wird, wird er immer korrumpiert werden. Eine Reduktion des staatlichen Lebens auf das rechtliche bedeutet aber keineswegs, dass der Staat keine sozialen Forderungen oder verbindliche Grundrechte festlegen dürfte. Nur über die inhaltliche Umsetzung dieser Forderungen durch das Wirtschafts- und Geistesleben, würden dann nicht die Vertreter des Staates, sondern eben diejenigen freier Schulen und solidarischer Wirtschafts- und Betriebsräte entscheiden.
[1] Mosmann Johannes, Das Geheimnis der Macht, Die erweiterte Demokratie – Teil V, Die Drei 6/2020