Wie äussere Befreiung innere Freiheit ermöglichen kann

Von Kura und Muran Müller — Der Weg nach innerer Freiheit kann auch im schulischen Kontext geöffnet werden, wenn Schulen Orte der Kraft sind, wo das kooperative Miteinander gelebt wird und wo alle die erforderliche Zeit und einen geeigneten Rahmen für die eigene Entwicklung erhalten.

Äussere Strukturen schränken unsere innere Freiheit ein. Gerade auch im schulischen Umfeld lernen Kinder und Jugendliche allzu oft, dass nur das zählt, was in einem bestimmten Moment von der Lehrerin oder vom Lehrer gefordert wird. Diese wiederum beziehen sich auf die Vorgaben, welche durch den Lehrplan und heruntergebrochen durch die Lehrmittel vorgegeben sowie durch standardisierte und damit standardisierende Tests überprüft wird. Zunehmend widersetzen sich Kinder und Jugendliche, wohl meist unbewusst, dieser Entmündigung. Viele Einzelne erkennen dies und möchten verändern, doch das System als Ganzes sperrt sich dagegen.

Was können Schulen dennoch verändern, um über äussere Befreiung die Entwicklung von innerer Freiheit zu unterstützen?

Um es vorwegzunehmen: Wenn aus Sehnsucht nach innerer Freiheit das der Gesellschaft über Jahrtausende anerzogene Korsett einfach so entfernt wird, dann ist dies für die Betroffenen grossmehrheitlich eine Überforderung. Auf politisch-gesellschaftlicher Ebene war dies beispielsweise im Arabischen Frühling oder nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu beobachten. Bei Kindern ist dies nicht anders: Sie benötigen den altersgemässen, individuell erforderlichen Halt und die Sicherheit, welche wir Erwachsenen ihnen bieten sollten. Sie brauchen Zumutung, damit sie Mut zeigen können und herausgefordert werden. Doch sie brauchen dabei die Sicherheit, dass wir sie nicht in Abgründe stürzen lassen, welche sie noch nicht erkennen können und dass wir in Bereichen die Verantwortung übernehmen, wo sie dies noch nicht können. Wenn wir uns dabei auch einmal gegen ihren Willen durchsetzen, spüren sie bei einer respekt- und würdevollen Beziehung, dass wir für sie da sind, dass sie uns einen Streit wert sind. Auch dies vermittelt ihnen Geborgenheit.

Eine äussere Befreiung braucht innere Stabilität, welche durch einen der Entwicklung angepassten äusseren Halt aufgebaut werden kann. Es ist ein Vor und Zurück, denn jede Entwicklung verläuft in Wellen. So braucht es beispielsweise in der Pubertät eine wache Begleitung, welche den äusseren Halt flexibel auf die gerade vorliegenden (hormo­nellen) Befindlichkeiten anpassen kann. Wir Erwachsenen sind den Kindern und Jugendlichen in diesem anspruchsvollen Prozess Vorbild und wir geben ihnen Orientierung. Dies kann nur gelingen, wenn wir selbstkritisch Nabelschau halten, uns also selbst hinterfragen und reflektieren können. Denn Selbstmeisterung beim Kind bedingt, dass sich auch die Erwachsenen selbst meistern können.

Und damit zu Möglichkeiten, äussere Freiheit im schulischen Umfeld aufzubauen. Idealerweise kann eine offene soziale Struktur angeboten werden. Das heisst, dass die Kinder und Jugendlichen in altersdurchmischten, also natürlichen Gruppengefügen eingebettet sind. Diese ermöglichen eine der individuellen Reifung entsprechende Orientierung zu Älteren wie auch zu Jüngeren. In einem solchen Umfeld wird der übersteigerte Wettbewerbsdruck eines homogenen Klassenverbandes abgeschwächt.

Erwachsene sollten ein wohlwollendes und tolerantes Sozialverhalten in allen Bereichen der Schule gewährleisten. Dies gibt dem Individuum Sicherheit. Schüchterne Kinder müssen sich entsprechend nicht verstecken, unsichere müssen sich nicht aufplustern und andere drangsalieren. Tragfähige und verlässliche persönliche Beziehungen entspannen und jedes Kind fühlt sich gesehen und angenommen. Auf diesem Fundament können eigene Grenzen schulischer und persönlicher Art ausgeweitet oder gar überschritten werden. So können und wollen Kinder – teilweise dazu aufgefordert und doch freiwillig – ihrem Wesen entsprechend mutig die Welt erfahren, sich «Prüfungen» stellen, wie barfuss durch den Schnee oder gar durchs Feuer zu gehen.

Schulische Prüfungen werden idealerweise als Mittel des Lernens durchgeführt, damit ein Kind selbst sehen kann, wo es steht, was es gelernt hat und wo es nochmals über die Bücher darf. Sind Prüfungen frei vom Selektionsdruck und vom Aspekt der Trennung in gut, genügend und ungenügend, so wünschen etliche Kinder und Jugendliche Prüfungen oder andere Rückmeldungen, weil sie sich dadurch bestätigt und bestärkt fühlen. Und weil es wie beispielsweise im Sport als Teil der Methodik und zur Motivation zum Training gehören darf. Die Lernatmosphäre darf und soll zudem auch humor- und freudvoll, lebendig, einladend und leicht sein.

Werden Kinder und Jugendliche in ihrem eigenen Lernprozess miteinbezogen, erleben sie Selbstwirksamkeit. Sukzessive können wir ihnen Verantwortung übergeben und sie ihnen zumuten, wenn sie reif dazu sind. In entsprechend aufgebauten Tagesschulen eignen sich auch alltägliche Arbeiten ideal, um die jungen Menschen miteinzubeziehen, sie als Mitwirkende an der Gemeinschaft teilhaben zu lassen. Den meisten macht es Freude, wenn sie in der Küche mithelfen und so für die Gruppe etwas kreieren können. Und selbst Reinigungsarbeiten gehen im gemeinschaftlichen Tun meist leicht von der Hand.

Im kooperativen Miteinander kann der Fokus auf die Stärken gelegt werden. Unterschiedliche Fähigkeiten werden in Projekten oder auch beim alltäglichen Lernen genutzt, um sich gegenseitig zu unterstützen, Schwächen auszugleichen und um gemeinsam Grösseres zu schaffen. Gemeinsam lassen sich die für das Wachstum erforderlichen Herausforderungen leichter und effektiver meistern. Alle lernen sich selbst zu reflektieren und anderen auf konstruktive Art Feedbacks zu geben. So lernen sich alle selbst als schöpferisches, soziales Wesen kennen.

Die positiven Erfahrungen führen zu einem stärkenden Selbstbild und dieses zu einer als gut empfundenen äusseren Welt mit neuen positiven Erfahrungen. Ein bestärkender Kreislauf, in Gang gebracht durch eine achtsame äussere Befreiung in Übereinstimmung mit einer wachsenden inneren Stabilität. Und mit dieser verlässlichen Führung aus sich selbst heraus bildet sich innere Freiheit. Ein Gefühl von «Ich bin», von Eigenständigkeit im Miteinander. Dies ist der Nährboden für Mut und Zuversicht, Herausforderungen freudvoll anzupacken und dabei zu wachsen.

Kura Müller, Kinderkrankenschwester, Therapeutin mit langjähriger Praxiserfahrung, Bewegungspädagogin, Lehrerin der tibetischen Achtsamkeits­meditation, Schulleiterin.

Muran Müller, Prof. ZFH, Dr. sc. nat. und dipl. Chem. ETH, Naturpädagoge, Schulleiter, Unternehmer.

www.schule-zuerisee.ch

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